Interview mit Ministerpräsident Horst Seehofer: „Opferschutz muss klar vor Täterschutz stehen“

Datum des Artikels 24.08.2017
MittelstandsMagazin

Neben Bundeskanzlerin Angela Merkel ist er der mit Spannung erwartete Ehrengast auf dem Bundesmittelstandtag der MIT in Nürnberg: der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer. Im Interview mit Mittelstandsmagazin-Chefredakteur Thorsten Alsleben spricht der CSU-Vorsitzende über die Herausforderungen der Rentenpolitik, über Bürokratie- und Steuerlasten. Beim Thema innere Sicherheit setzt Seehofer auf „strikte und effektive Einreisekontrollen“ auch an den EU-Binnengrenzen.

Herr Ministerpräsident, die Große Koalition wird gerade von Mittelständlern sehr kritisch gesehen. Was hat die Koalition aus Ihrer Sicht für Mittelstand und Arbeitsplätze gebracht?
Zunächst einmal: Deutschland steht nach zwölf Jahren unter Führung von CDU und CSU prächtig da. Die Wirtschaft boomt. Noch nie hatten so viele Menschen einen Arbeitsplatz wie heute. Wir haben in den letzten vier Jahren alle unsere Wahlversprechen eingelöst. Dass es mit uns wie versprochen keine neuen Schulden und keine höheren Steuern gegeben hat, war eine Voraussetzung für den andauernden Aufschwung. Und wir haben viele Anschläge auf den Mittelstand abgewehrt: Denken Sie nur an die Erbschaftsteuer, wo SPD und Grüne die Betriebe auf Kosten der Arbeitsplätze zur Kasse gebeten hätten.

Die Rente mit 63 hat die SPD mit Gewalt durchgesetzt, sie wird von fast allen Rentenexperten sehr kritisch gesehen. Wird die Union das zurückdrehen?
Jetzt kommt es erst einmal darauf an, eine Wahl zu gewinnen. Wir werden jedenfalls alles tun, um Arbeitsplätze zu schützen und neue zu schaffen. Das Projekt der Union für die nächsten Jahre heißt: Wohlstand und Sicherheit für alle. Für die Rente gilt: Wir haben die Weichen dafür gestellt, dass die Renten bis 2030 sicher und verlässlich sind. Gleichzeitig bleiben die Rentenbeiträge auch über 2020 hinaus stabil.

Also keine Rücknahme der Rente mit 63?
Ein Rentensystem braucht vor allem Stabilität und Verlässlichkeit. Das heißt auch, dass man manchmal Dinge so lassen muss, auch wenn man sie alleine anders entschieden hätte. Die Rente mit 63 wird ja ohnehin schrittweise angehoben auf 65 Jahre.

Welches Gesetz aus der Zeit der Großen Koalition muss denn aus Ihrer Sicht im Sinne der Wirtschaft und Arbeitsplätze korrigiert werden?
Wir haben ein hervorragendes Regierungsprogramm von CDU und CSU, eine Fundgrube innovativer Ideen für unser Land. Auch der Bayernplan der CSU steht dafür, dass wir den Aufwärtstrend für unser Land fortsetzen wollen. Was diesem Ziel widerspricht, muss auf den Prüfstand.

Mit dem Mindestlohn haben sich die meisten Unternehmen wohl abgefunden, nicht aber mit der Bürokratie, etwa bei Minijobs und der Auftraggeberhaftung. Die Union verspricht im Wahlprogramm Abhilfe. Was genau wollen Sie ändern und wie schnell geht das?
Die CSU sagt ganz klar: Der Bürokratiewust beim Mindestlohn ist nicht hinnehmbar. Wir wollen, dass Dokumentationspflichten so weit wie möglich abgeschafft werden. Die minutengenaue Auflistung der Arbeitszeit ist nicht praxistauglich. Wir müssen den Mindestlohn entbürokratisieren – und zwar schnell!

Die starre Mindestlohnregelung für Praktika hat dazu geführt, dass junge Leute heute fast keine Praktikumsplätze mehr bekommen. Könnte man nicht einfach sagen: Alle Praktika sind in den ersten sechs Monaten vom Mindestlohn befreit, egal ob studienbegleitend oder nicht, egal ob sie länger dauern oder nicht?
Auch das werden wir uns sehr genau anschauen.

Unternehmen beklagen, dass das starre Arbeitszeitgesetz den heutigen Realitäten, aber auch den Interessen der Mitarbeiter mit Heimarbeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf gar nicht mehr entspricht. Die Union verspricht im Wahlprogramm aber nur Änderungen für tarifvertraglich gebundene Unternehmen. Das heißt, für die meisten Mittelständler und für alle Startups würden die starren alten Regeln weiter gelten. Warum das?
Die Tarifpartner haben hier eine ganz besondere Verantwortung, auch neue Lebenswirklichkeiten aufzunehmen. Klar ist: Die Arbeitszeitregelung muss – auch und gerade im Sinne der Beschäftigten und ihrer Familien – flexibilisiert werden. Die Menschen profitieren auch von mehr geeigneten Homeoffice-Arbeitsplätzen. Wir wollen überhaupt eine neue Kultur der Partnerschaft für die Arbeitszeitregelungen zwischen Beschäftigten und Betrieb mit praxisgerechten Lösungen für alle, gerade für Dienstleistungen, Gastronomie und kleinere Betriebe.

Die Änderung der Handwerksordnung 2004 hat dazu geführt, dass in den meisten der von der Meisterpflicht befreiten Berufe die Ausbildungsleistung weit überdurchschnittlich zurückgegangen ist. Die MIT kämpft daher für die Wiedereinführung der Meisterpflicht. Wie könnte man das umsetzen?
Der Meister ist ein einzigartiger Qualitätsnachweis, so wie auch unsere duale Berufsausbildung weltweit als Vorbild geschätzt wird. Wir wollen und müssen die Gleichwertigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bildung zum Ausdruck bringen. Deshalb werden wir den Meisterbrief erhalten und prüfen, wie wir ihn für weitere Berufsbilder EU-konform einführen beziehungsweise wieder einführen können.

Die Union verspricht, die Bürger zu entlasten. Nun erwarten die Steuerschätzer für 2020 insgesamt 88 Milliarden Euro höhere Steuereinnahmen als in diesem Jahr, 2021 sogar 120 Milliarden. Warum geben Sie davon nur 15 Milliarden an die Steuerzahler zurück?
Wir stehen für eine Verlässlichkeit und Planbarkeit – und wir halten, was wir versprechen. Wir werden die Menschen wuchtig entlasten. Denn Sie müssen ja sehen, dass zu den 15 Milliarden Steuersenkungen auch Milliardenentlastungen durch einen höheren Kinderfreibetrag und mehr Kindergeld und eine Absenkung des Soli kommen. Gleichzeitig führen wir unsere Rekordinvestitionen fort. Und wir beginnen im Bund den Schuldenabbau. Wir stehen als CSU für diesen goldenen Dreiklang: Schulden abbauen, investieren, entlasten. Das ist übrigens auch Position unserer MU und der MIT. Und schließlich müssen wir auch gewappnet sein: Die riesigen Herausforderung – Krisen, Terrorismus, Migration – können wieder ungeplante Kosten verursachen.

Beim Soli sind Sie aber sehr zaghaft. Es wurde immer gesagt, dass der Soli wegfällt, wenn der Solidarpakt Ost wegfällt, also Ende 2019. Warum wird dann der Soli nicht mit einem Schlag ganz abgeschafft?
Wir dürfen den Menschen nicht zu viel versprechen. Klar ist: Der Solidaritätszuschlag erfüllt 27 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht mehr seinen Zweck. Deshalb werden wir den Soli in kräftigen Schritten abschaffen, komplett und für alle. Wir beginnen in der kommenden Wahlperiode mit einer Entlastung von rund vier Milliarden Euro, ab 2020 werden wir den Soli dann schrittweise auf Null reduzieren.

Wann, schätzen Sie, werden Steuerzahler zum letzten Mal den Soli bezahlen?
Wenn die Wirtschaft weiter so gut läuft, in sehr überschaubarer Zeit.

Auch für die MIT ist „Sicherheit als Standortfaktor“ ein wichtiges Thema. Im Leitantrags-Entwurf für den Bundesmittelstandstag fordert die MIT unter anderem, dass Gewalttäter in Deutschland nicht mehr so leicht mit Bewährungsstrafen davonkommen. Wären Sie dafür, dort den Ermessensspielraum der Gerichte etwas einzuschränken?
Sicherheit ist in der Tat der erste Standortfaktor. Keine andere politische Kraft kümmert sich mehr darum als die Union. Wir werden auch künftig alles dafür tun, damit unser Rechtsstaat wehrhaft bleibt. CDU und CSU sind die Parteien der inneren Sicherheit. An erster Stelle steht für mich der Schutz des Lebens, der Gesundheit und des Eigentums unserer Bürger. Für uns geht da Opferschutz ganz klar vor Täterschutz. Auf Druck der CSU ist die Mindeststrafe beim Wohnungseinbruch jetzt auf ein Jahr erhöht worden. Auch Gewalttäter müssen die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.

Die MIT fordert in ihrem Leitantrag auch, dass die Bundespolizei zur Bekämpfung unerlaubter Einreise auch außerhalb der 30-Kilometer-Grenzregion an Hauptverkehrsrouten kontrollieren darf. Würden Sie das unterstützen?

Alle Vorschläge zur Erhöhung der Sicherheit und zur Bekämpfung illegaler Einreisen verdienen eine genaue Prüfung. Vor einer Ausweitung der Zuständigkeiten halte ich es aber für wichtig, dass die Bundespolizei zunächst ihren heute schon bestehenden Aufgaben vollumfänglich nachkommen kann. Ich darf insoweit etwa daran erinnern, dass die bayerische Polizei die Bundespolizei seit Dezember 2016 bei den Kontrollen an der Grenze zu Österreich unterstützt, damit das Kontrollnetz dort noch enger geknüpft werden kann.

Was passiert eigentlich, wenn der Flüchtlingsstrom zum Beispiel aus Italien deutlich ansteigt und wieder Hunderte oder Tausende Migranten unkontrolliert über die deutsche Grenze kommen?
Unser gemeinsames Regierungsprogramm von CDU und CSU sagt ganz klar: Eine Situation wie im Jahr 2015 darf und wird sich nicht wiederholen.

Müssen wir dann – anders als 2015 – die Grenze sichern und Menschen am Übertritt hindern?
Wir wollen den Schutz der Außengrenzen der EU. Dabei müssen die betroffenen Länder mit Geld und Personal unterstützt werden. Solange der Schutz der EU-Außengrenzen nicht funktioniert, ist weiterhin die Kontrolle der deutschen Außengrenzen notwendig. Schon im Interesse unserer Bürger und unserer Sicherheit müssen wir wissen, wer sich bei uns aufhält. Dafür sind strikte und effektive Einreisekontrollen notwendig.

Kommen wir zur Bundestagswahl: Was wäre Ihre Wunschkoalition?
Wenn der Wähler es zulässt, habe ich eine klare Präferenz für Schwarz-Gelb.

Die schwarz-gelbe Koalition wird sogar von Unionsleuten als nicht besonders erfolgreich, die Zusammenarbeit mit der FDP zum Teil als unprofessionell angesehen. Warum sollte das beim nächsten Mal besser sein?
Die FDP ist kein einfacher Partner. Aber es ist in der Politik nicht verboten dazuzulernen.

Wenn es für Schwarz-Gelb nicht reicht, was wäre das kleinere Übel: Jamaika, als Schwarz-Gelb-Grün, oder nochmal eine Große Koalition?
Beides wäre schwierig. Deshalb kämpfen wir ja mit aller Kraft für eine maximal starke Union aus CDU und CSU. Je stärker wir werden, desto mehr Unionspolitik wird es nach der Wahl in Berlin geben.

Bitte vervollständigen Sie folgende Sätze: Wenn ich anstelle von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz wäre…
… dann würde ich mir wünschen, ich könnte CSU-Parteivorsitzender und Ministerpräsident in Bayern sein.

Wenn Angela Merkel mich in zwei Jahren bitten würde, ob ich ihr Nachfolger werden könnte…“
… dann würde ich das ablehnen. Das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten ist das schönste Amt der Welt.